Mit toten Dingen spielt man nicht

Mit toten Dingen spielt man nicht


Unser Lachen erfüllt den Wald. Bis auf die fahlen Lichtflecken, die der Vollmond durch das
Blätterdach wirft, liegt alles in vollkommener Dunkelheit. Unsere unsicheren Schritte werden durch den feuchten
Waldboden gedämpft. Mein Zwillingsbruder Jack und ich folgen Josh, unseren gemeinsamen besten
Freund, der mit Sicherheit der Betrunkenste von uns ist. Aber er ist nun mal der Einzige, der den Weg
kennt. Ich war überrascht, als er von diesem Friedhof erzählte. Ich habe vorher noch nie von ihm
gehört. Angeblich soll er mitten in dem Wald liegen. der an unsere Straße grenzt.
In dem Moment dreht sich Josh um und fragt lallend, ob wir nicht schneller laufen 
könnten. Jack und ich zögern, doch dann stolpern wir ihm weiter hinterher.
Bald darauf erreichen wir ein großes, eisernes Tor, in dem einige Buchstaben 
kunstvoll eingearbeitet sind, die den Namen des Friedhofs ergeben: nekrá nekrotafeío. Der Name
erinnert mich zu sehr an das Wort Nekromantie. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. 
Ein Knirschen ertönt, als das gewaltige Tor geöffnet wird. Dahinter erscheint ein in 
die Jahre gekommener, weitläufiger Friedhof. Die Wege werden teilweise von Gestrüpp überwuchert.
Die Inschriften der Gräber sind verblasst, sodass man nur noch einzelne Buchstaben und Zahlen
ausmachen kann. Die Blumen, die auf die Gräber gepflanzt wurden, mussten Unkraut Platz machen
und die Grabkerzen in den noch erhaltenen Behältern sind schon lange herunter gebrannt. Dichter
Nebel wabert um die umgefallenen Kreuze und zerstörten Marmorengel herum und selbst der Mond
versteckt sich hinter dunklen Wolken. Die Lichter unserer Taschenlampen wandern über den Friedhof.
Die perfekt Spukkulisse. Josh verschwendet keinen Blick auf den Friedhof, sondern läuft direkt weiter.
Mein Bruder und ich wechseln einen Blick und eilen ihm dann nach. Keine Ahnung, ob der Alkohol
seine Wirkung verliert, aber auf einmal finden wir die Idee nicht mehr so lustig. Langsam kämpfen wir
uns durch die Pflanzen. Ein paar Mal bleibe ich hängen und zerreiße meine Jeans an den
Dornensträuchern. Leise fluchend stolpere ich weiter. Meine Handinnenflächen werden nass und
krampfhaft halten meine Finger die Taschenlampen fest. Niemals würde ich es zugeben, aber jetzt
gerade habe ich doch schon etwas Angst. Dieser Ort verschafft einem Gänsehaut. Ein Blick zu Jack
sagt mir, dass er sich hier auch nicht besonders wohl fühlt. Josh reißt aber Witze und sein Kichern
erfüllt die Luft. Doch er wird irgendwann ruhiger und verstummt schließlich, als er anhält. 
,,Das ist es?”, wispert er.
Ich stelle mich neben ihn und sehe vor meinen Füßen ein Grab liegen. Seltsamerweise ist das Gras in
einem vollkommenen Kreis um das Grab herum komplett verdorrt und verbrannt. Im Gegensatz zu den
anderen ist es nicht überwuchert. Die Blumen sind vertrocknet und bräunlich. Die Inschrift kann man
lesen, auch wenn sie etwas verblasst ist:


,,Angelina Kaliya Bennet


geboren am: 27. August 1948
gestorben am: 13. September 1969


Eine geliebte Tochter-Frau-Freundin”


Ich rechne kurz nach. Angelina ist seit 50 Jahren tot. Jacks Stimme durchschneidet die Stille: ,,Josh,
warum sind wir hier?”
Er antwortet nicht, sondern betrachtet stumm die Ruhestätte. Es vergehen ein paar Minuten, in denen
unser Atem das einzige Geräusch ist. Schließlich erhebt Josh seine Stimme und erzählt leise eine
Geschichte: ,,Vor etwa 50 Jahren wurde diese Frau von ihrem Mann ermordet, weil sie keine Kinder
gebären konnte. Ihr Vater war so untröstlich über ihren Tod, dass er sich in seine Studien zurückzog
und nach etwas Ausschau hielt. Nach dem Tod seiner Frau konnte er seine Tochter nicht auch noch
verlieren. Kurz vor ihrer Beerdigung ging er zu ihren Sarg und öffnete ihn. Darin lag seine
wunderschöne Tochter. Ihr Ableben konnte ihrer Schönheit nichts anhaben. Das bestärkte ihn in
seinem Beschluss und er holte Kreide aus seiner Jackentasche und ein kleines Buch, welches in einer
fremdartigen Sprache geschrieben wurde. Während er unverständliche Worte psalmodierte, zeichnete
er seltsame Symbole in den Sargdeckel. Als er fertig war, streichelte er Angelinas Wange und schloss
ihren Sarg wieder. Nachdem sie unter die Erde gebracht wurde, wartete ihr Vater drei Tage und wachte
über ihr Grab. Und plötzlich hörte er Kratzgeräusche und sprang auf. Wenige Minuten später sah er
eine Hand aus dem Grab aufragen. Er packte sie und zog seine Tochter heraus. Sie war so schön wie
eh und je, doch sie schien ihn nicht zu erkennen. Er war ihr erstes Opfer. Denn der Zauber der
Wiedererweckung hat seinen Preis: Damit sie auf der Erde wandeln kann, müssen andere sterben. Sie
mordet und verspeist das Herz ihrer Opfer…
Nach unzähligen Ermordungen fanden zwei Brüder heraus wie man sie töten kann. Man muss sie mit
einem Eisenpfahl in ihren eigenen Sarg festnageln. Die beiden überlisteten Angelina und vergruben sie
wieder…”
Schweigend starren wir auf das Grab und lassen uns nicht anmerken, wie gruselig wir das finden. Doch
dann erschallt Joshs sorgloses Lachen und er fragt uns: ,,Na, Bock eine Leiche auszugraben?”  Jack
und ich zögern.
,,Josh, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist…”, fange ich an, aber er unterbricht mich und meint,
ich sei noch nicht betrunken genug. Mit diesen Worten bekomme ich eine Bierdose in die Hand
gedrückt. Seufzend öffne ich sie und trinke. Der Alkohol brennt sich seinen Weg runter und nach einer
Zeit steigt er mir zu Kopf. Wir haben uns aus einem alten Schuppen Schaufeln geholt und haben
mittlerweile schon ein beachtliches Loch gegraben. Ich sitze gerade daneben und leuchte mit meiner
Taschenlampe hinein, damit Jack und Josh sich nicht gegenseitig mit der Schaufel einen überbraten.
Als sie auf Widerstand stoßen, springe ich zu ihnen hinunter und helfe ihnen den Sarg freizulegen.
Man sieht ihm die Jahre unter der Erde an. Josh öffnet ihn und der Sargdeckel springt knarzend auf.
Doch wir bekommen keine vom Alter geschwärzten Knochen zu sehen; eher im Gegenteil: Im Sarg
liegt eine wunderschöne junge Frau. Ihre schwarzen Haare liegen ausgebreitet auf dem kleinen Kissen
und ihr Gesicht ist blass. Alles in allem wirkt es so, als würde sie nur schlafen, wenn da nicht der
eiserne Pfahl wäre, der aus ihre Brust ragt. Überall im Sarg sind seltsame, obskure Zeichen, die man
sonst nur inHorrorstreifen zu Gesicht bekommt. Trotz all der Zeit, die seit dem Auftragen der Symbole
angeblich vergangen ist, sehen sie noch sehr frisch aus, als wären sie gerade erst aufgemalt worden. 
Erst Joshs Stimme reißt mich aus meinen Betrachtungen.
,,Na? Wer traut sich?” Er deutet mit der Hand auf den Pfahl. Sofort schüttel ich den Kopf und klettere
aus dem Grab. 
,,Mir egal, ob ihr mich für einen Angsthasen hält oder nicht, ich packe die Leiche da nicht an!” Ich
schüttel weiter den Kopf. Jack klettert zu mir und gibt mir schweigend recht. 
,,Wenn es niemand macht, muss ich es wohl”, schmollt er. Seufzend dreht er sich um und beugt sich
über Angelina. Ganz langsam greift er nach dem Pfahl und umschließt ihn mit seinen Fingern. Mit
angehaltenem Atem beobachten wir, wie er ihn in Zeitlupe heraus zieht. Danach warten wir. Eine
ohrenbetäubende Stille senkt sich über den Friedhof.
Lachend dreht er sich um und ruft: ,,Nichts passiert! Ha! Und ihr hättet…” Plötzlich schreit er und im
nächsten Augenblick liegt er im Sarg und Angelina hockt auf ihm. Ihre langen, zu Krallen gekrümmten
Finger reißen unserem besten Freund den Brustkorb auf. Seine Schreie gehen durch Mark und Bein. Ich
würde am liebsten weglaufen, irgendwohin, wo dieses Monster mich nicht findet. Doch ich kann mich
nicht bewegen. Wie gelähmt bin ich. Mein Bruder und ich müssen mit ansehen, wie sie nach sein Herz
greift und es mit einem Ruck heraus zerrt. Seine Schreie sind schon längst verstummt und seine weit
aufgerissenen Augen starren nun leer in den Himmel. Der Vollmond bescheint die Kreatur im Grab, die
gerade ihr Maul aufreißt und Joshs Herz im Ganzen verschlingt, und nichts mehr mit der schönen Frau
zu tun hat, die wir vor wenigen Minuten gefunden haben. Ihre langen schwarzen Haare sind verfilzt
und hängen ihr in Strähnen über den Rücken. Ihre Augen sind bis auf den Augapfel ganz schwarz und
überall an ihr klebt frisches Blut. 
Auf einmal steht sie neben uns und wirft Jack um. Schreiend weiche ich zurück. Er versucht
sich zu befreien, windet sich und schlägt um sich. Sie verzieht ihre aufgeplatzten, blassen
Lippen zu einem unheimlichen Lächeln und zeigt ihre schwarzen, abgebrochene Zähne. Dann
öffnet sie den Mund und lässt ihre Stimme ertönen, die wie trockenes Herbstlaub klingt:
,,Danke, dass ihr mich erlöst habt. Nur war das euer Untergang.” Jack schreit auf und befiehlt
mir, wegzulaufen, als sie ihre Klauen in seinen Körper schlägt. Ich drehe mich um und nehme
die Beine in die Hand. So schnell wie möglich laufe ich über den Friedhof und kämpfe mich
durch das Gebüsch, während hinter mir die Schreie meines Bruders langsam verklingen.
Tränen rinnen über mein Gesicht und meine Sicht verschwimmt. Blind stolpere ich über einen
Grabstein und falle auf den Boden. Steinchen bohren sich in meine Hände. Schnell rappel ich
mich wieder auf und renne los. Doch plötzlich werde ich nach hinten gestoßen und lande auf
den Rücken. Ich keuche und versuche zurückzuweichen, als ich gegen einen Grabstein stoße.
Der faulige Geruch nach Verwesung steigt mir in die Nase. Dicht vor meinem Gesicht sehe ich
Angelinas ausdruckslose Augen.Sie grinst mich an und dann spüre ich ihre Hände in meiner
Brust. Schmerzensschreie entweichen meiner Kehle. Mein Blut spritzt hoch und ich höre meine
Knochen brechen. Alles ist voller Schmerz. Angelinas glucksendes Kichern dringt dumpf zu
mir und ich spüre, wie mein Leben mit meinem Blut entweicht. Langsam senkt sich die
Dunkelheit über mich und alles verklingt im Hintergrund. Das letzte, was ich verspüre, ist, wie
ein Ruck durch meinen Körper geht, ein letzter großer Schmerz, und dann ist alles vorbei…

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